Informationsdossier Tschernobyl
Trotz alledem sind sich die Mitarbeiter der Kernkraftwerke ihrer Verantwortung bewusst und wissen, wie wichtig Professionalität ist. Daher werden sie intensiv geschult und trainiert.
Was ist in Tschernobyl passiert?
Am 26. April 1986 wurde Reaktor 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl für die Wartung stillgelegt. Gleichzeitig sollte auch ein neues Notfallsystem getestet werden. Während der Stilllegung sank die Leistung des Reaktors allerdings zu schnell. Die Operatoren versuchten, die Leistung wieder hochzufahren, indem sie viel mehr Kontrollstäbe (welche die Reaktivität im Reaktorkern mitsteuern) aus dem Kern zogen als zulässig. Zudem wurde auch eine automatische Sicherung ausgeschaltet.
Entgegen der Erwartung stieg die Leistung des Reaktors stärker an als geplant. Die Operatoren wollten den Reaktor manuell stoppen, indem sie die Kontrollstäbe komplett fallen ließen. Einige Stäbe fielen allerdings nicht vollständig in den Kern.
Danach hörten zwei Zeugen außerhalb des Kraftwerks zwei Explosionen nacheinander. Brennendes Material schoss in die Luft und setzte das Gebäude mit der Turbine in Brand. Der Deckel des Reaktors war nicht mehr korrekt verschlossen und lag schief auf. Der aus Grafitblöcken gebaute Reaktorkern, in dem sich die Brennelemente befanden, brannte.
Wodurch wurde der nukleare Unfall in Tschernobyl verursacht?
Der nukleare Unfall in Tschernobyl wurde durch eine Kombination verschiedener Faktoren verursacht:
- die unsichere Konstruktion des Kernkraftwerks, u. a. ein von Grund auf instabiler Reaktor, brennbares Grafit als Moderator, mangelhafte Kontrollstäbe und ein einfaches Reaktorgebäude.
- menschliche Fehler, weil das Personal nicht ausreichend geschult war, um die Funktionsweise und die wichtige Rolle bestimmter Sicherheitssysteme gut zu verstehen und bei Abweichungen richtig zu reagieren.
- ein niedriges Sicherheitsbewusstsein, was sich u. a. darin zeigte, dass bewusst von Betriebsverfahren abgewichen wurde, Sicherheitsvorschriften ignoriert wurden und das Sicherheitssystem für eine lange Zeit ausgeschaltet wurde.
- eine Umgebung, in der die autoritäre Leitung ihren Willen von oben auferlegte, ohne Zweifel oder kritische Anmerkungen von Mitarbeitern oder Experten zu berücksichtigen.
Ein Test, der unter unsicheren Umständen ausgeführt wurde, und eine Verkettung von Fehlern und falschen Entscheidungen führten zu einer unkontrollierten nuklearen Kettenreaktion und Leistungssteigerung im Reaktor, sodass dieser sich überhitzte und explodierte.
Kann dies auch in einem belgischen Kernkraftwerk passieren?
Nein, weil
- die Konstruktion der belgischen Kernkraftwerke von Grund auf viel sicherer ist und keine Mängel aufweist, die mitunter zum nuklearen Unfall von Tschernobyl geführt haben;
- das Personal der belgischen Kernkraftwerke viel besser geschult ist als die Operatoren von Tschernobyl. Sie werden trainiert, um Verfahren richtig zu verwenden, effizient zusammenzuarbeiten, bei Zweifel zu stoppen und menschliche Fehler zu verhindern, indem spezielle Techniken angewandt werden;
- in den belgischen Kernkraftwerken eine offene Kultur herrscht, in der jeder seine Zweifel oder Bedenken frei äußern, Probleme ansprechen und Fehler transparent melden kann.
- die Sicherheit der belgischen Kernkraftwerke durch zahlreiche unabhängige Behörden streng überwacht wird. Es gibt keinen anderen Sektor, der so streng kontrolliert wird. Die Kernkraftwerke werden jedes Jahr im Durchschnitt 50 unabhängigen Audits unterzogen, das ist ungefähr ein Audit pro Woche. Die Berichte sind oft öffentlich. Sowohl nationale als auch internationale Experten für Kernkraft bestätigen, dass die belgischen Kernkraftwerke sicher sind.
Dank der Kombination einer starken Konstruktion, korrekten Arbeitsweisen und sicherheitsbewusstem Verhalten garantieren wir den sicheren Betrieb unserer Kernkraftwerke.
Inwiefern unterscheidet sich die Konstruktion der belgischen Kernkraftwerke von der Konstruktion in Tschernobyl?
Beim Kernkraftwerk von Tschernobyl handelte es sich um Reaktoren des Typ RBMK: ein Reaktor mit Wasser als Kühlmittel und Grafit als Moderator (= Material, dass die Neutronen abbremst, die bei der Kernreaktion freigesetzt werden). RBMK-Reaktoren gab es nur in der Sowjetunion. Dieser Reaktortyp war von Grund auf instabil und erfüllte zum Zeitpunkt des Baus nicht die Anforderungen der im Westen geltenden Sicherheitsstandards.
Bei den belgischen Kernkraftwerken handelt es sich um Reaktoren des Typen PWR (Pressurized Water Reactor/Druckwasserreaktoren). In diesem Reaktortyp wird Wasser als Kühlmittel und auch als Moderator verwendet. Druckwasserreaktoren sind von Grund auf sicher und stabil. Die meisten Kernkraftwerke, die heutzutage weltweit in Betrieb sind, gehören zum Typ PWR.
Grundsätzlich hat der PWR-Reaktor einige wichtige Vorteile gegenüber dem RBMK-Reaktor:
- Ein PWR-Reaktor hat einen negativen Voidkoeffizienten und ist daher intrinsisch stabil: Wenn die Temperatur des primären Kühlwassers steigt, verzögert sich die Kernreaktion und sinkt die Leistung. Bei einem RBMK-Reaktor passiert genau das Gegenteil: Wenn die Temperatur des primären Kühlwassers steigt, wird die Kernreaktion beschleunigt, wodurch die Temperatur des Kühlwassers weiter steigt und immer so weiter. Dies kann zu einer unkontrollierten Kernreaktion und Leistungssteigerung führen, wie dies auch in Tschernobyl passiert ist.
- In einem RBMK-Reaktor dient Grafit als Moderator, d. h., zum Abbremsen der schnellen Neutronen im Kern. Grafit ist leicht brennbar. Beim PWR-Reaktor wird Wasser als Moderator verwendet.
Die belgischen Kernkraftwerken bieten noch andere wichtige Vorteile:
- Mithilfe der Kontrollstäbe kann die Kernreaktion innerhalb von zwei Sekunden komplett stillgelegt werden. Die Kontrollstäbe werden nur durch die Schwerkraft in den Reaktor abgesenkt und müssen nicht hineingedrückt werden, was allerdings in Tschernobyl der Fall war.
- Die belgischen Kernkraftwerke sind mit umfassenden Sicherheitssystemen in dreifacher Ausführung ausgestattet. Diese Sicherheitssysteme sind in Bunkergebäuden untergebracht, die allen möglichen Vorfällen standhalten.
- Die belgischen Kernkraftwerke verfügen über doppelwandige Reaktorgebäude aus Stahlbeton, die entworfen wurden, um die Radioaktivität im Falle eines Unfalls innerhalb eines Gebäudes zu halten. Die sowjetischen RBMK-Reaktoren waren nicht durch eine solche starke Konstruktion geschützt.
Wie werden menschliche Fehler in den belgischen Kernkraftwerken verhindert?
Wir reduzieren das Risiko auf menschliche Fehler durch unsere Arbeitsweise und unser Verhalten.
Für jede Handlung, die unsere Mitarbeiter ausführen müssen, haben sie detaillierte Verfahren zu befolgen. Außerdem führen wir unabhängige Kontrollen aus, um die Qualität der geleisteten Arbeit zu gewährleisten.
Ferner schulen wir unsere Mitarbeiter in Bezug auf sicheres Verhalten und wenden effektive Techniken an, um menschliche Fehler zu verhindern:
- Wir betonen ständig, dass die nukleare Sicherheit absolute Priorität hat.
- Die Operatoren im Kontrollraum werden ausgebildet und geschult, auch unter Stress und in Notfallsituationen effizient zusammenzuarbeiten.
- Wir bringen ihnen bei, bei Zweifel immer zu stoppen und falls erforderlich, Hilfe oder eine zusätzliche Kontrolle anzufordern.
- Durch effektive Kommunikation verhindern wir Missverständnisse: falls jemand zum Beispiel eine Bestätigung anfordert, antworten wir, indem wir die Informationen vollständig wiederholen, anstatt einfach „ja“ oder „OK“ zu sagen.
- Wichtige oder schwierige Eingriffe werden zuvor an Modellen oder in einem Simulator geübt.
- Wir fordern unsere Mitarbeiter auf, Probleme oder Fehler transparent zu melden und die zugrunde liegende Ursache durch Untersuchung und Analyse zu ermitteln.
- Wir schaffen eine offene Kultur, in der Zweifel oder Bedenken frei besprochen werden können.
Die Sicherheitssysteme unserer Kernkraftwerke sind so entworfen, dass menschliche Fehler abgefangen und ausgeglichen werden.
Welche Lehren hat die nukleare Industrie aus dem Unfall von Tschernobyl gezogen?
Nach dem nuklearen Unfall in Tchernobyl wurde die World Association of Nuclear Operators (WANO) gegründet. Diese Organisation umfasst mehr als 120 Betreiber von mehr als 430 Kernkraftwerken auf der ganzen Welt. Ihre Mission ist es, zu verhindern, dass sich ein Unfall wie der in Tschernobyl wiederholt.
Durch die WANO arbeiten alle Akteure des Sektors zusammen, um die Kernkraftwerke so sicher wie möglich zu betreiben. Sie fordern einander auch kontinuierlich auf, den sicheren Betrieb immer weiter zu verbessern. Dies geschieht, indem internationale Richtlinien und Standards festgelegt werden, die Kernkraftwerke sich gegenseitig durch Peer-Reviews prüfen, indem bewährte Praktiken ausgetauscht werden und wichtige Betriebsinformationen und Erfahrungen miteinander geteilt werden. Die WANO widmet dem menschlichen Faktor dabei auch immer viel Aufmerksamkeit, da dieser beim Unfall in Tschernobyl eine große Rolle gespielt hat.
Was ist die heutige Situation in Tschernobyl?
Seit der Katastrophe im Jahr 1986 ist die Strahlungsbelastung um viele hundert Male gesunken. Daher sind die meisten der einst verseuchten Gebiete heute wieder für sichere Bewohnung und wirtschaftliche Aktivitäten geeignet. Die Zone in der unmittelbaren Umgebung des Kernkraftwerks (die Sperrzone in einem Umkreis von 30 km vom Kernkraftwerk) muss intensiv saniert werden und ist derzeit noch nicht permanent bewohnbar. Die Sperrzone kann inzwischen allerdings für kurze Zeit ohne Schutzkleidung betreten werden.
Im August 2010 wurde mit dem Bau eines Sarkophags für den Reaktor begonnen. Diese Kuppel ist 108 m hoch und 162 m lang und wurde inzwischen installiert. Auf diese Weise kann die Dekontamination an der Innenseite des Reaktorgebäudes fortzusetzen.
Dieser Sarkophag ist so gebaut, dass er extremen Temperaturschwankungen zwischen -40 °C en +40 °C, extremen Witterungsverhältnissen und Radioaktivität standhält. Die Konstruktion besteht aus zwei Schichten, wobei die Zwischenschicht unter leichtem Unterdruck steht. Durch dieses System wird verhindert, dass Radioaktivität nach außen gelangt, und der Reaktor kann weiter abgebaut werden.